Schnipp-Schnapp Haare ab

 

Wenn man mit 46 Jahren (offiziell) wieder zu Hause einzieht, ist das wie eine Reise in die Vergangenheit. Auch wenn das ehemalige Kinderzimmer längst anderweitig verwendet wird, ist man schlagartig wieder der Teeanger, der vor einem Vierteljahrhundert ausgezogen ist. Und so war es nur eine Frage von Stunden (ich hatte ehrlich gesagt mit Minuten gerechnet) bis das Thema nicht mehr umschifft werden konnte. Beim Abendessen war es soweit. „Wann warst Du denn das letzte Mal beim Frisör?“ Nicht dass meinen Vater eine Antwort auf seine Frage interessiert hätte, vielmehr wollte er seinen Protest gegen die lange Mähne kundtun, wobei eine „lange Mähne“ bereits für ihn dann beginnt, wenn die Ohren nicht akkurat frei gelegt sind. Er selbst pflegt Zeit seines Lebens den gleichen kurz geschnittenen Scheitel über gestutztem Schnäuzer. Zumindest gibt es außer wenigen Kinderbildern keinen auf Zelluloid festgehaltenen Moment, in dem mein Vater eine andere Frisur zugelassen hätte, als den militärisch korrekten Haarschnitt.

 

In der Tat war es einige Wochen her, dass ich zum letzten Mal beim Friseur war. Ich glaube, es war im Juli, vielleicht aber auch schon im Juni. Einerseits aus zeitlichem Mangel. Andererseits, weil ich keinen Sinn darin sah, wie aus dem Ei gepellt durch die Straßen Berlins zu stolzieren (gefühlt 90 Prozent der Berliner machen das übrigens nicht). Einer der Vorteile, wenn man seinen Job gekündigt hat. Auch in Sankt Peter-Ording sah ich keinen Anlass, an meiner Strandmatte auf dem Kopf etwas zu ändern, die jeder zweite Surfer dort mit Stolz trägt. Erschreckend musste ich aber feststellen, dass etwas längere Haare unter einer Schirmmütze extrem ungünstig abstehen können und Erinnerungen an Crusty, den Clown wecken. Trotzdem liebäugelte ich damit, die Matte noch etwas wachsen zu lassen, als Ausdruck des selbst gewählten Vagabundenlebens.  

 

Als ich nach meiner Rückkehr in die Türkei durch das gut bewachte Tor zur Marina in Marmaris fahren wollte, stoppte mich die Security. Während ich die Formalitäten mit dem netten Wachmann mit Ruhrpott-Slang klärte, in dem ich ihm erklärte, dass mein Boot hier im Hafen läge, das ich gerade gekauft habe, bemerkte ich plötzlich, dass direkt neben der Einfahrt eine kleine Blockhütte steht, über deren Tür in großen Buchstaben „Hairdresser“ prangt. Ein Wink des Schicksals oder purer Zufall? Für einen kurzen Moment hörte ich wieder meinen Vater mit seinen mahnenden Worte über meine Mähne, die wie ein Tinnitus in meinen Gehörgängen hallten. 

 

Nachdem ich die erste Nacht wie ein Stein geschlafen hatte, kratzte ich mich durch die zweite, erschlug zum Zeitvertreib und aus Rache ein paar Mücken. Als ich gegen sieben Uhr genervt und gerädert den Kampf gegen die Blutsauger aufgab, um mir meinen Instantkaffee zu brühen und den Tag zu begrüßen, blickte mich aus dem Spiegel im Badezimmer ein gerupfter Wischmob an. Sah irgendwie scheiße aus. Langsam nervten mich die Haare. Vor allem bei schweißtreibenden Arbeiten am Boot, pieksen die verschwitzten Strähnen in den Augen. Und so kam es, wie kommen musste. Mittags klopfte ich an die Tür des Barbiers, der gelangweilt in seiner Holzhütte saß und abwechselnd auf sein Handy und den Fernseher starrte. „Shave or haircut“, fragte er zur Begrüßung. Auch wenn mir von früheren Aufenthalten in der Türkei noch bewusst ist, dass der Besuch bei einem Barbier durchaus seinen Reiz hat, beschränkte ich mich auf den Haarschnitt. Eins nach dem anderen.

 

Auf meine Antwort „haircut“ kam ein tiefer Seufzer. Der Barbier deutete mit einem Wink auf den Platz vor dem Spiegel, kramte nach einer Sprühflasche, mit der Spießer in Deutschland ihren Ficus Benjamini bestäuben, und besprühte meine Haare so lange, bis sie tropfnass wie zu lange gekochte Spaghetti am Gesicht klebten. Zu meiner Erleichterung kramte der Frisör nach einer Schere und nicht nach einem Rasierapparat, um mir den Schädel zu scheren. Denn zuvor hatte er mehr befehligt als gefragt, wie ich denn die gerne die Haare geschnitten hätte. Mit nur einem Wort: „Short.“ Dahinter setze er gefühlt drei Ausrufezeichen, fett gedruckt, und ein winziges Fragezeichen. 

 

Ich nickte. Mit Kamm und Schere klapperte er wie Edward mit den Scherenhänden dicht an meinen Ohren vorbei - ohne dabei aber auf meinen Kopf zu schauen. Vielmehr blickte er in den Spiegel, der vor mir an der Wand hing, und beobachtete darin den Fernseher, wo gerade eine adrette blondierte Moderatorin eine ältere Dame in bäuerlicher Tracht und Kopftuch Punkte und Striche auf die Füße und Hände malte und diese dann massierte. Ich vermute, es ging um das Thema Fußreflexmassage, an dem mein Friseur reges Interesse zu haben schien. Ich fragte mich, welchen Punkt am Körper man wohl stimulieren müsse, um die Blutung an einem abgeschnittenen Ohr stoppen zu können. Plötzlich fragte ich mich, ob es einen kausalen Zusammenhang zwischen der Frisörbude und der daneben liegenden Holzhütte gibt. Denn über der Nachbartür steht in der gleichen Typo „Medical Clinic“. 

 

Nach einer Viertelstunden Scherengerassel war der Kampf wider Erwarten unblutig beendet. Und ich beeindruckt. Nicht nur waren die Ohren heil geblieben. In den Ohren steckte jetzt sogar jeweils ein Zeigefinger des Frisörs, der Wattebäusche in den Gehörgängen rotieren ließ wie es sonst nur Waschmaschinen mit Frotteehandtüchern im Schleudergang tun. Ob damit keine abgeschnittene Härchen herauspoliert werden sollten oder aber es ein Tipp der Reflexzonentante aus dem Fernsehen war, kann ich nicht sagen. Es war jedenfalls nicht unangenehm. Zumindest im Vergleich zu dem, was dann kommen sollte. Plötzlich fasste der Frisör meinen Kopf zwischen seine beiden Pranken und bog ihn schwungvoll nach rechts und links und wieder nach rechts und wieder nach links. Jovial setzte es dann noch einen schallenden Klaps auf die Schulter. Was ich erst als väterliche Geste deutete, war aber nichts anderes als der Versuch mit zu bedeuten, dass ich mich vornüber lehnen soll, den Kopf tief gebückt ins Waschbecken, damit er mir die Haare waschen konnten. Nach einer behänden Kopfmassage fühlte ich mich wie neu geboren. Daran konnte auch das Fönen nichts ändern. Während der heiße Wind die Haare trocken pustete, schlug der Frisör mit der flachen Hand immer wieder sanft über meine Kopfhaut. Eine Bürste hätte es meines Erachtens auch getan. Aber gut, andere Länder…

 

Das Ergebnis war jedenfalls ansehnlich. Und ich fühle mich wieder wie ein Mensch. Wer sagt denn, dass Aussteiger lange Haare haben müssen? Manchmal kann sollte man eben doch auf seinen Eltern hören. Auch mit 46 Jahren. Aber wirklich nur manchmal.

 

 

 

 

 

 

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