Die Fahrprüfung, Teil 1

Wer die Wahl hat, hat bekanntlich die Qual. „Köln - Köln sein“, die "Gegenfahrbahn vergewaltigen"  oder doch „die Verletzte einschläfern“? Antworten, die in Teilen verunsichern. Ich muss jedenfalls in der Türkei meinen Motorradführerschein machen, will ich weiterhin mit meinem Roller durch die Gegend düsen. Und den Test gibt es sogar auf Deutsch. Das ist toll!  Dachte ich. Bis ich das bisweilen etwas krude Schulungsmaterial in den Händen halte. 

 

Es begab sich an einem wunderschönen Tag im November. Zwei der drei Gasflaschen an Bord der Dilly-Dally waren leer. Zeit, den Vorrat wieder aufzustocken. Also schleppte ich die blauen Ungetüme über den Steg zu meinem Roller, den ich mir vor zwei Jahren gebraucht gekauft hatte, belud ihn und bretterte von der Marina Richtung Stadt. Doch ich kam nicht weit. Schon nach zweihundert Metern winkte mich ein freundlicher Polizist aus dem Verkehr. Allgemeine Verkehrskontrolle, wie bereits am Vortag an gleicher Stelle, als ich den Hund zwischen den Beinen hatte. Cingene, die kleine Promenadenmischung, ist begeisterte Rollerfahrerin. Sie liebt es, wenn der Fahrtwind ihre putzige Nase kitzelt, amüsiert blinzelt sie um die Sichtschutz und kläfft frech andere Hunde am Wegesrand an. Ich bin jedesmal überrascht, wie fortschrittlich selbst die Polizei in der Türkei ist. Am Vortag hatte ich keine Papiere. Kein Problem. Der Polizist tippte lediglich das Nummernschild in ein Tablet, fragte nach meinem Namen, nickte, streichelte den Hund, wünschte mir noch einen schönen Tag und ließ mich passieren.

 

 

 

An diesem Tag empfing mich ein anderer Kollege. Wie am Vortag sprach auch er sehr gutes Englisch, freute sich aber über ein paar Brocken Türkisch, die ich zu der Konversation beitragen konnte. Wir plauderten ein wenig, während sein Kollege einen Rollerfahrer vor mir verwarnte, der ohne Helm unterwegs war. „Ich wurde hier schon gestern kontrolliert“, sagte ich dem netten Beamten. Der nickte. „Ja, wir stehen jetzt hier die nächsten Wochen jeden Tag.“ Trotzdem wollte sein Kollege noch einmal die Papiere sehen, die ich dieses Mal sogar dabei hatte. Ich gab ihm meine Aufenthaltsgenehmigung und meinen Führerschein. Es musste insgesamt das vierte oder fünfte Mal gewesen sein, dass ich mit dem Roller kontrolliert wurde. Nie gab es Probleme. Doch dieses Mal sollte es anders kommen. Der zweite Polizist zeigte auf meinen Führerschein - und insbesondere auf das kleine Symbol, das verblüffende Ähnlichkeit mit einem Motorrad hat. Dann wanderte sein Finger die Zeile entlang etwas nach rechts. Da war ein Strich! Dann tippte er auf den Roller und wedelte seinen Zeigefinger wie einen Scheibenwischer vor meinem Gesicht hin und her. Um sicherzugehen übersetzte sein Kollege die recht gelungene Pantomime noch einmal. „You are not allowed to drive this scooter! You have no license.“

 

Ich gab den Überraschten. Und in der Tat war ich es. Zumindest ein bisschen. Ich wusste, dass ich in Deutschland einen 125er Roller nicht mit einem Auto-Führerschein fahren durfte. In der Türkei war ich mir da nicht sicher. Freunde, die ich gefragt hatte, sagten nur: Kein Problem. Und auch die Versicherung hatte nicht nach einer Lizenz gefragt. Und war ich nicht bereits mehrmals angehalten worden, jedes Mal ohne Ermahnung? Dieses Mal gab es aber kein Entrinnen, das schwante mir bereits, als der freundliche Polizist den harschen Kollegen weiterhin übersetzte und weitere Dokumente forderte. „Die habe ich auf dem Boot“, erklärte ich. Der Polizist bat mich, sie zu holen. „Kein Problem!“, sagte ich und ging intuitiv zum Roller, um kurz zurück zu düsen. Wieder wedelte der Scheibenwischerfinger. (Achtung Spoiler! Kurze Frage aus der englischen Führerscheinprüfung zum Thema Scheibenwischer, die auf mein kommendes Dilemma hinweisen: How long should the windshield wiper blades be changed? a) 1 month b) 3 month c) 6 month d) Metallica). „Sie dürfen den Roller nicht benutzen!“ Ach ja, ich vergaß. 

 

Langer Fußweg, kurzer Sinn: Die Strafe betrug rund 1200 Türkische Lira - etwa 130 Euro. Und natürlich durfte ich den Roller nicht mehr benutzen. Oder mich nicht mehr erwischen lassen. Das Gute ist aber: Wer seine Strafe direkt beim Amt binnen von 15 Tagen zahlt, bekommt 25 % Rabatt. Das ist doch mal ein Angebot. Wie ich zu dem Amt auf dem Hügel kam, darüber möchte ich öffentlich lieber schweigen. 

 

Um den Roller weiterhin nutzen zu können, führte kein Weg daran vorbei: Ich musste einen Motorrad-Führerschein machen. Das sollte kein Problem sein, denn schließlich bietet die Türkei die Führerscheinprüfung auf diversen Sprachen an. Darunter auch auf Deutsch. Nachdem ich mich bei der Fahrschule angemeldet - und die Prüfung auf Deutsch beantragt - hatte, begannen die Probleme. Denn das deutsche Schulungsmaterial war schwer aufzutreiben. Und natürlich gibt es keine Kurse auf Deutsch. Also bat ich meinen Namensvetter und ehemaligen Kollegen Jens, der mittlerweile in Istanbul lebt und den Motorradschein bereits absolviert hatte, mir das englische Lehrbuch zu schicken. Schon bei seinem letzten Besuch hatte er von den kreativen Wortschöpfungen geschwärmt, die allerdings das Lernen etwas erschweren. 

 

Das Buch hielt, was Jens versprochen hatte. Obwohl ich mich des Englischen halbwegs mächtig fühle, hatte ich einige Schwierigkeiten zu verstehen, was denn da steht. Weder die Prüfungsfragen, noch die Antworten machten oftmals Sinn. Es führte kein Weg daran vorbei: Ich musste die deutsche Ausgabe auftreiben. Unbedingt. Weil auch Arzum den Motorradführerschein machen wollte, stand sie im regen Austausch mit der Fahrschule in Kaş. Und siehe da, nach mehreren Wochen hatten wir dann schon den Link zum Bestellen der offiziellen deutschen Ausgabe, herausgegeben vom Ministerium für nationale Bildung.

 

400 Seiten schwer, darin über tausend Fragen zu Vorfahrtsregeln, Anstand im Verkehr, Motorkunde und erster Hilfe. Eine Menge Stoff, aber einmal durchlesen müsste reichen. Dachte ich. Doch die Übersetzung, sagen wir es mal vorsichtig, holperte an mancher Stelle. Oder anders ausgedrückt: Sie war eine nicht endende Piste voller Schlaglöcher. Die Übersetzung muss mit einer der ersten Betaversionen von Google Translate entstanden sein, als das Programm noch in den Kinderschuhen steckte. Selbst auf Deutsch hatte ich Probleme, manche Fragen und vor allem die Antworten zu verstehen. Etwas kryptisch muteten Fragen an wie „Ist das Entweichen von Traktoren mit Gummirädern für eine regelmäßige Inspektion erforderlich?“ Mit viel Phantasie könnte man vielleicht noch versuchen, einen Sinn in der Frage zu finden. Wie beispielsweise: Müssen diese Traktoren auch zum TÜV? Die Antwortmöglichkeiten lauten jedoch: a) 1; b) 2; c) 3 oder 4). Richtig ist übrigens Antwort c - also 3! Warum auch immer...

 

Und so beschloss ich, die rund 1000 Fragen einfach auswendig zu lernen. Ich wusste, dass die Antwort, als plötzlich ein „Schiff“ an der Kreuzung auftaucht richtig ist, ebenso wie die „Asyltasche“ am Hang oder die „Banküberweisung“ beim Überholen. Die Regel, dass die lustigsten Antworten immer die richtigen sind, schien sich lange Zeit zu bewahrheiten, allerdings versagte sie bei den medizinischen Fragen. „Köln - Köln sein“, eine Antwortmöglichkeit auf die Frage, „welche der folgenden Maßnahmen in der Sara-Krise zu ergreifen sind“, war nämlich falsch. Die Sara-Krise ist übrigens ein Epilepsie-Anfall. Um mein Dilemma zu verdeutlichen: Die anderen Antworten lauten: "Wenn die Zähne geklemmt werden, wird es nicht zwangsläufig." "Bedeckt." Und: "Wird mit Antiphyretika behandelt." 

 

Auch die Antwort auf die Frage, „Was sollte bei niedrigem Blutzucker als Erstversorgung getan werden“, ist wider Erwarten nicht: „Der Verletzte sollte eingeschläfert werden.“ Dafür ist wiederum „Vergewaltigen Sie die Gegenfahrbahn“ die richtige Lösung bei der Frage nach der Hauptursache für Verkehrsunfälle. 

 

Ich sah nur eine Möglichkeit, den Test zu bestehen: Stumpfes Auswendiglernen. Und so paukte ich die Antworten, ohne sie zu verstehen. Und erstaunlicherweise war ich ganz gut darin. Dumm nur, dass meine Freundin die türkische Version lernte. Und da waren die richtigen Antworten bisweilen ganz andere. Kurz vor der Prüfung stritten wir uns darum, wer Vorfahrt hat. In beiden Büchern ist die gleiche Skizze: Ein Auto fährt in einen Kreuzungsbereich und will rechts abbiegen. Neben ihm ist ein Radfahrer, der geradeaus fahren will. Da ich manchmal auch mit dem Fahrrad unterwegs bin, weiß ich aus der Praxis, dass der Radfahrer rechtelos im Straßenverkehr ist. Von daher schien mir die Antwort c), die als richtig gekennzeichnet ist, auch als plausibel. Antwort A) lautet nämlich: "Stehlen Sie die Hörner und warnen Sie den Radfahrer!" Hörner stehlen? Vermutlich nicht, auch wenn es durchaus Usus ist, sich den Weg frei zu hupen. Antwort B: "Wenn keine Fußgänger auf der Straße sind!" Wäre natürlich möglich, dann gäbe es vielleicht keine Zeugen, wenn das Auto den Radfahrer von der Straße kickt. C) "Der Radfahrer muss das Durchgangsrecht gewähren." Was, vorausgesetzt die Übersetzung ist richtig, bedeuten würde, dass das Auto hat Vorfahrt. Und D) "Muss beschleunigt werden, um seinen Zug abzuschließen." Nein, D schließe ich aus. 

 

„Der Radfahrer hat Vorfahrt!“, beharrt Arzum auf die richtige Antwort. „Nicht der Autofahrer!“ Ich zucke mit den Schultern: „Bei mir ist es eben andersrum.“ „Du kannst doch nicht eine falsche Antwort ankreuzen, wenn Du es besser weißt.“ Ihre Argumentation ist an sich vollkommen logisch, aber diese Herangehensweise widerspricht meiner Strategie. Ich versuche zu erklären: „Ich gehe davon aus, dass die Fragen in dem offiziellen Buch gleich sind den offiziellen Testfragen. Also lerne ich die Antworten auswendig. Mit Logik habe ich keine Chance.“ Arzum kann das nicht nachvollziehen. „Aber das ist falsch! Was ist denn, wenn die Fragen im Test anders gestellt sind?“ Mist, daran hatte ich noch gar nicht gedacht. 

 

Es ist Montag, der 22. Februar. Die Sonne scheint vom strahlend blauen Himmel, als wir im Leihwagen durch die Berge düsen. Die Prüfung wird in der Türkei nicht von der Fahrschule abgenommen, sondern muss in einem offiziellen e-Test-Zentrum abgelegt werden. Und das ist in Kumluca, etwa eineinhalb Autostunden entfernt. Auf dem Weg gehen wir anfangs noch mal strittige Fragen durch. Ich fühle mich plötzlich an eine Aussage unseres ehemaligen Innenministers erinnert: Teile der Antworten versunsichern uns. Also beschließen wir, nicht mehr über die Interpretation der Antworten zu spekulieren. Nichts anderes ist es: Ein Spekulieren und Interpretieren. 

 

Das e-Test-Zentrum von Kumluca liegt am Ortsausgang und ist angeschlossen an das Fachgymnasium für soziale Wissenschaften. Um die 20 Fahrschüler warten mit uns auf Einlass. Gemäß den Corona-Regeln trägt natürlich jeder eine Maske, am Eingang wird die Temperatur gemessen. Bereits zuvor mussten wir unsere HES-Nummer angeben, die jedesmal verlangt wird, wenn man ein öffentliches Gebäude, Läden oder Busse betritt. So kann im Fall einer Corona-Infektion erkannt werden, mit wem die Person in Kontakt war und gewarnt werden. 

 

Der Testraum ähnelt einem Callcenter. In kleinen Boxen steht jeweils ein Computer mit Webcam. Ankara is watching you, wird uns erklärt. Jederzeit könne aus der zentralen Prüfungsstelle überwacht werden, dass auch wirklich der Prüfling die Fragen beantwortet. Zuvor wird bereits das Gesicht gescannt (ohne Maske natürlich) und mit dem biometrischen Foto abgeglichen, das man bei der Anmeldung zum Test einreichen musste. 

 

Meine Aufregung hält sich in Grenzen. Ich bin lediglich gespannt, ob die Testversion anders ist als die im Buch. Dann könnte ich Probleme bekommen. Ich weiß schließlich, dass die „Asyltasche“ und auch „das Schiff“ die richtigen Antworten sind, allerdings weiß ich nicht, was sich dahinter verbirgt. Sollte es eine neue Übersetzung geben, wäre ich wohl aufgeschmissen. Doch es kommt anders. Ganz anders. 

 

Als der Test beginnt, bin ich erstaunt. Alle Fragen sind auf Türkisch! Der einzige Button, den ich sehe, ist mit „English“ beschriftet. Also wende ich mich an den etwas schroffen Prüfungsleiter. „Ich habe mich für die deutsche Prüfung angemeldet! Wo finde ich die Version?“ Achselzucken. Arzum hakt noch einmal nach, aber der Prüfer zuckt erneut mit den Schultern. Der personalisierte Test werde aus Ankara eingespielt, er könne da nichts machen. Ich frage mich derweil, was „Asyltasche“ wohl auf Englisch heißt. Asylum bag? 

 

Wie sich herausstellt, sind die Prüfungsfragen in einem deutlich besseren Englisch verfasst als in dem Buch. Sie scheinen sogar grammatikalisch einigermaßen okay. Das Problem ist nur: Besonders bei den medizinischen und mechanischen Fragen kenne ich die Fachbegriffe nicht. Die Uhr tickt. Wir haben 45 Minuten Zeit für die 50 Fragen mit unterschiedlicher Wertigkeit, mit denen insgesamt 100 Punkte zu erreichen sind. Um zu bestehen, brauche ich mindestens 70 Punkte. Kurz vor der Prüfung erzählte uns ein anderer Prüfling, dass er bereits zum zweiten Mal hier sei. Die Zeit habe einfach nicht ausgereicht, sagte er.

 

Erschwerend kommt hinzu, dass der Test auf Englisch etwas umständlich ist. Erst erscheint die Frage auf Türkisch, dann muss ich auf „Englisch“ drücken, um eine Übersetzung zu bekommen, dann das Fenster wieder wegklicken und auf der türkischen Seite die Antwort auswählen. 

 

Nach knapp 20 Minuten habe ich alle Fragen beantwortet. Arzum war sogar noch etwas schneller. Die allermeisten anderen Prüflinge sitzen noch angestrengt vor den Computern. Auf dem Rückweg rätseln wir noch, wie wir wohl abgeschnitten haben. Auch wenn mein Gefühl gar nicht mal so schlecht ist, stelle ich mich schon mal darauf ein, englische Fachbegriffe für die Wiederholung zu pauken. Doch dazu soll es nicht kommen: Am Abend können wir unsere Ergebnisse online abrufen. Arzum hat 94 Punkte, ich immerhin 88. Bestanden! Was will man mehr…

 

Der nächste Schritt ist dann in ein paar Wochen die praktische Prüfung, die praktischerweise nicht im echten Straßenverkehr stattfindet, sondern auf einem Schotterparkplatz irgendwo einige Kilometer entfernt von Kaş. Bis dahin müssen wir ein paar Pflichtstunden absolvieren - auch nicht im Straßenverkehr, sondern direkt gegenüber der Marina, wo lustlos jeden Donnerstag zehn Hütchen stehen, um die die Rollerfahrer kreisen. Das ist alles. Und das beste ist: Ich darf mit meinem eigenen Roller fahren. Sicherheitshalber schiebe ich ihn aber zu den Fahrstunden. Sind zum Glück nur ein paar Meter. 

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